Pressemitteilung
ALMA und Rosetta weisen Freon-40 im Weltall nach
Rückschlag im Hinblick auf Hoffnungen, dass dieses Molekül Marker für Leben sein kann
2. Oktober 2017
Beobachtungen mit der Atacama Large Millimeter/Submillimeter Array (ALMA) und der ESA-Mission Rosetta haben ergeben, dass das Organohalogen Freon-40 im Gas um einen jungen Stern und einen Kometen herum vorhanden ist. Organohalogene werden von organischen Prozessen auf der Erde gebildet, aber dies ist die erste Entdeckung im interstellaren Raum überhaupt. Diese Entdeckung legt nahe, dass Organohalogene nicht so gute Marker des Lebens sind wie erhofft, sondern dass sie wichtige Bestandteile des Materials sein könnten, aus dem sich Planeten bilden. Dieses Ergebnis, das in der Zeitschrift Nature Astronomy erscheint, unterstreicht die Herausforderung, Moleküle zu finden, die auf das Vorhandensein von Leben außerhalb der Erde hinweisen könnten.
Auf der Grundlage von Daten, die mit ALMA in Chile und dem ROSINA-Instrument der Rosetta-Mission der ESA erfasst wurden, hat ein Team von Astronomen schwache Spuren der chemischen Verbindung Freon-40 (CH3Cl), das auch als Methylchlorid oder Chlormethan bezeichnet wird, rund um das junge Sternsystem IRAS 16293-2422 [1], in einer Entfernung von etwa 400 Lichtjahren und bei dem berühmten Kometen 67P/Churyumov-Gerasimenko gefunden. Die neue ALMA-Beobachtung ist der erste Nachweis eines stabilen Organohalogens im interstellaren Raum überhaupt [2].
Organohalogene bestehen aus Halogenen wie Chlor und Fluor, gebunden mit Kohlenstoff und manchmal auch anderen Elementen. Auf der Erde entstehen diese Verbindungen durch verschiedene biologische Prozesse - in Organismen vom Menschen bis hin zu Pilzen - sowie durch industrielle Prozesse wie die Herstellung von Farbstoffen und Medikamenten [3].
Die Entdeckung einer dieser Verbindungen, Freon-40, an Orten, die die Entstehung von Leben erst noch vor sich haben, kann gewissermaßen als Enttäuschung gewertet werden, da frühere Studien angedeutet hatten, dass diese Moleküle sich als Indikator für die Anwesenheit von Leben selbst eignen würden.
"Das Organohalogen-Freon-40 in der Nähe dieser jungen, sonnenähnlichen Sterne zu finden, war überraschend", erläutert Edith Fayolle, Wissenschaftlerin am Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics in Cambridge, Massachusetts, in den USA und Erstautorin des neuen Fachartikels, in dem die Ergebnisse präsentiert werden. "Wir haben einfach nicht damit gerechnet, dass es sich dort schon gebildet hat und waren insbesondere auch überrascht, dass es in solch hohen Konzentrationen vorkommt. Damit ist jetzt klar, dass sich diese Moleküle leicht in solchen Sternkinderstuben bilden. Damit geben sie umgekehrt aber auch Einblicke in die chemische Evolution von Planetensystemen, einschließlich unseres Sonnensystems."
Die Exoplanetenforschung hat längst den Punkt überschritten, an dem nur nach fernen Planeten ansich gesucht wird – mehr als 3000 Exoplaneten sind inzwischen bekannt – mittlerweile sucht man nach chemischen Markern bei diesen Planeten, die auf das Vorhandensein von Leben hinweisen könnten. Ein entscheidender Schritt dabei ist die Bestimmung, welche Moleküle Indikatoren für Leben sein könnten, aber die Etablierung zuverlässiger Marker bleibt ein kniffliger Prozess.
"ALMAs Entdeckung von Organohalogenen im interstellaren Medium sagt uns auch etwas über die Ausgangsbedingungen der organischen Chemie auf Planeten aus. Diese Chemie ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu den Ursprüngen des Lebens", ergänzt Karin Öberg, Mitautorin der Studie. "Organohalogene sind wahrscheinlich Bestandteil der sogenannten Ursuppe, sowohl auf der jungen Erde als auch auf im Entstehen begriiffenen, fernen Gesteinsplaneten."
Dies deutet darauf hin, dass Astronomen vielleicht einen anderen Weg gehen könnten als zunächst gedacht: Anstatt auf das Vorhandensein von schon existierendem Leben hinzuweisen, könnten Organohalogene ein wichtiges Element in der wenig verstandenen Chemie sein, die am Ursprung des Lebens beteiligt ist.
Jes Jørgensen vom Niels-Bohr-Institut der Universität Kopenhagen fügt hinzu: "Dieses Ergebnis zeigt die Stärke von ALMA, bei jungen Sternen Moleküle von astrobiologischem Interesse auf einer Skala zu detektieren, auf der sich Planeten bilden können. Mit ALMA haben wir bisher Vorläufer von Zuckern und Aminosäuren in der Umgebung verschiedener Sterne gefunden. Die zusätzliche Entdeckung von Freon-40 um den Kometen 67P/C-G stärkt die Verbindung zwischen der präbiologischen Chemie entfernter Protosterne und unserem eigenen Sonnensystem."
Die Astronomen verglichen auch die relativen Mengen von Freon-40, die verschiedene Chlorisotope in dem jungen Sternsystem und im Kometen enthalten – und fanden ähnliche Häufigkeiten. Dies unterstützt die Idee, dass ein junges Planetensystem die chemische Zusammensetzung seiner sternbildenden Mutterwolke "erben" kann und eröffnet die Möglichkeit, dass Organohalogene während der Planetenbildung oder durch Kometeneinschläge auf Planeten in jungen Planetensystemen eintreffen könnten.
Unsere Ergebnisse zeigen, dass wir noch viel über die Organohalogenbildung zu lernen haben", so Fayolle abschließend. "Weitere Untersuchungen über Organohalogen in der Nähe anderer Protosterne und Kometen müssen unternommen werden, um die Antwort zu finden."
Endnoten
[1] Dieser Protostern ist ein binäres Sternsystem, umgeben von einer molekularen Wolke in der Rho Ophiuchi-Sternbildungsregion, was ihn zu einem exzellenten Ziel für ALMAs Millimeter/Submillimeter-Messungen macht.
[2] Die verwendeten Daten stammen aus dem ALMA Protostellar Interferometric Line Survey (PILS). Ziel dieser Studie ist es, die chemische Komplexität von IRAS 16293-2422 durch Abbildung des gesamten von ALMA abgedeckten Wellenlängenbereichs im 0,8 Millimeter-Atmosphärenfenster auf sehr kleinen Skalen zu erfassen, die der Größe des Sonnensystems entsprechen.
Die Spezies CF+, die als Organohalogen angesehen werden kann, wurde bereits nachgewiesen, ist aber nicht stabil.
[3] Freone wurden als Kältemittel (daher der Name Freon) weit verbreitet verwendet, sind aber nun verboten, da sie eine zerstörerische Wirkung auf die schützende Ozonschicht der Erde haben.
Weitere Informationen
Die hier präsentierten Forschungsergebnisse von E. Fayolle et al. erscheinen am 2. Oktober 2017 unter dem Titel "Protostellar and Cometary Detections of Organohalogens" in der Fachzeitschrift Nature Astronomy.
Die beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sind: Edith C. Fayolle (Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics, USA), Karin I. Öberg (Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics, USA), Jes K. Jørgensen (Universität Kopenhagen, Dänemark), Kathrin Altwegg (Universität Bern, Schweiz), Hannah Calcutt (Universität Kopenhagen, Dänemark), Holger S. P. Müller (Universität zu Köln, Germany), Martin Rubin (Universität Bern, Schweiz), Matthijs H. D. van der Wiel (The Netherlands Institute for Radio Astronomy, Niederlande), Per Bjerkeli (Onsala Space Observatory, Schweden), Tyler L. Bourke (Jodrell Bank Observatory, UK), Audrey Coutens (University College London, UK), Ewine F. van Dishoeck (Universiteit Leiden, Niederlande; Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik, Deutschland), Maria N. Drozdovskaya (Universität Bern, Schweiz), Robin T. Garrod (University of Virginia, USA), Niels F. W. Ligterink (Universiteit Leiden, Niederlande), Magnus V. Persson (Onsala Space Observatory, Schweden), Susanne F. Wampfler (Universität Bern, Schweiz) und das ROSINA-Team.
Das Atacama Large Millimeter/submillimeter Array (ALMA) ist eine internationale astronomische Einrichtung, die gemeinsam von der ESO, der US-amerikanischen National Science Foundation (NSF) der USA und den japanischen National Institutes of Natural Sciences (NINS) in Kooperation mit der Republik Chile betrieben wird. Getragen wird ALMA von der ESO im Namen ihrer Mitgliedsländer, von der NSF in Zusammenarbeit mit dem kanadischen National Research Council (NRC), dem taiwanesischen National Science Council (NSC) und NINS in Kooperation mit der Academia Sinica (AS) in Taiwan sowie dem Korea Astronomy and Space Science Institute (KASI).
Bei Entwicklung, Aufbau und Betrieb ist die ESO federführend für den europäischen Beitrag, das National Radio Astronomy Observatory (NRAO), das seinerseits von Associated Universities, Inc. (AUI) betrieben wird, für den nordamerikanischen Beitrag und das National Astronomical Observatory of Japan (NAOJ) für den ostasiatischen Beitrag. Dem Joint ALMA Observatory (JAO) obliegt die übergreifende Projektleitung für den Aufbau, die Inbetriebnahme und den Beobachtungsbetrieb von ALMA.
Die Europäische Südsternwarte (engl. European Southern Observatory, kurz ESO) ist die führende europäische Organisation für astronomische Forschung und das wissenschaftlich produktivste Observatorium der Welt. Getragen wird die Organisation durch 16 Länder: Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Spanien, Schweden, die Schweiz und die Tschechische Republik. Die ESO ermöglicht astronomische Spitzenforschung, indem sie leistungsfähige bodengebundene Teleskope entwirft, konstruiert und betreibt. Auch bei der Förderung internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Astronomie spielt die Organisation eine maßgebliche Rolle. Die ESO verfügt über drei weltweit einzigartige Beobachtungsstandorte in Chile: La Silla, Paranal und Chajnantor. Auf dem Paranal betreibt die ESO mit dem Very Large Telescope (VLT) das weltweit leistungsfähigste Observatorium für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren Lichts und zwei Teleskope für Himmelsdurchmusterungen: VISTA, das größte Durchmusterungsteleskop der Welt, arbeitet im Infraroten, während das VLT Survey Telescope (VST) für Himmelsdurchmusterungen ausschließlich im sichtbaren Licht konzipiert ist. Die ESO ist außerdem einer der Hauptpartner bei zwei Projekten auf Chajnantor, APEX und ALMA, dem größten astronomischen Projekt überhaupt. Auf dem Cerro Armazones unweit des Paranal errichtet die ESO zur Zeit das Extremely Large Telescope (E-ELT) mit 39 Metern Durchmesser, das einmal das größte optische Teleskop der Welt werden wird.
Die Übersetzungen von englischsprachigen ESO-Pressemitteilungen sind ein Service des ESO Science Outreach Network (ESON), eines internationalen Netzwerks für astronomische Öffentlichkeitsarbeit, in dem Wissenschaftler und Wissenschaftskommunikatoren aus allen ESO-Mitgliedsländern (und einigen weiteren Staaten) vertreten sind. Deutscher Knoten des Netzwerks ist das Haus der Astronomie in Heidelberg.
Links
- Fachartikel in Nature Astronomy
- NRAO-Pressemitteilung
- ESA-Pressemitteilung
- Frühere ALMA-Ergebnisse zu diesem Stern: Methylisocyanat und Zucker
- Fotos von ALMA
Kontaktinformationen
Edith Fayolle
Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics
Cambridge, Massachusetts, USA
E-Mail: efayolle@cfa.harvard.edu
Jes K. Jørgensen
Niels Bohr Institute, University of Copenhagen
Copenhagen, Denmark
Tel: +45 4250 9970
E-Mail: jeskj@nbi.dk
Ewine van Dishoeck
Leiden Observatory
Leiden, Netherlands
Tel: +31 71 5275814
E-Mail: ewine@strw.leidenuniv.nl
Richard Hook
ESO Public Information Officer
Garching bei München, Germany
Tel: +49 89 3200 6655
Mobil: +49 151 1537 3591
E-Mail: rhook@eso.org
Joerg Gasser (Pressekontakt Schweiz)
ESO Science Outreach Network
E-Mail: eson-switzerland@eso.org
Über die Pressemitteilung
Pressemitteilung Nr.: | eso1732de-ch |
Name: | 67P/Churyumov-Gerasimenko, IRAS 16293-2422 |
Typ: | Solar System : Interplanetary Body : Comet Milky Way : Star |
Facility: | Atacama Large Millimeter/submillimeter Array |
Science data: | 2017NatAs...1..703F |