Pressemitteilung
Dunkle Materie könnte gleichmäßiger verteilt sein als erwartet
Präzise Untersuchungen der VST-Aufnahmen eines großen Teils des Himmels enthüllen interessantes Ergebnis
7. Dezember 2016
Die Auswertung einer riesigen neuen Galaxien-Durchmusterung deutet darauf hin, dass Dunkle Materie weniger dicht und dafür gleichmäßiger im gesamten Weltraum verteilt sein könnte, als bisher angenommen. Ein internationales Astronomenteam, unter ihnen auch Wissenschaftler vom Argelander-Institut für Astronomie in Bonn, analysierte Daten aus dem Kilo Degree Survey (KiDS), der mit dem VLT Survey Telescope der ESO in Chile durchgeführt wurde, um zu untersuchen, wie das Licht von etwa 15 Millionen entfernten Galaxien auf großen Skalen durch die Gravitationskraft der Materie im Universum beeinflusst wurde. Die Ergebnisse scheinen im Widerspruch zu früheren Ergebnissen des Planck-Satelliten zu stehen.
Unter der Leitung von Hendrik Hildebrandt vom Argelander-Institut für Astronomie in Bonn und Massimo Viola von der Sternwarte Leiden in den Niederlanden wertete ein Astronomenteam [1] von Instituten aus aller Welt Bilder des Kilo Degree Survey (KiDS) aus, die mit dem VLT Survey Telescope (VST) der ESO in Chile aufgenommen wurden. Die für die Auswertung verwendeten Aufnahmen decken insgesamt fünf Himmelsregionen mit einer Gesamtfläche von etwa dem 2200-fachen der Größe des Vollmonds ab [2] und enthalten rund 15 Millionen Galaxien.
Dank der ausgezeichneten Bildqualität des VST am Paranal und innovativer Computer-Software gelang dem Team eine der präzisesten Messungen, die je zum Effekt der kosmischen Scherung durchgeführt wurde. Hierbei handelt es sich um eine Form des schwachen Gravitationslinseneffektes, bei dem Licht, das von fernen Galaxien emittiert wird, durch die Gravitationseffekte großer Mengen Materie wie z.B. Galaxienhaufen verzerrt wird.
Bei der kosmischen Scherung sind es nicht Galaxienhaufen, die das Licht verzerren, sondern großräumige Strukturen im Universum, was zu einem noch kleineren Effekt führt. Es sind sehr umfangreiche und tiefe Durchmusterungen wie KiDS erforderlich, um sicherzustellen, dass das sehr schwache Signal der kosmischen Scherung stark genug ist, um gemessen zu werden. Mit Hilfe dieses Effektes können Astronomen die Verteilung der Materie kartieren. Noch nie zuvor wurde eine so große Fläche des Himmels mit dieser Technik abgebildet.
Interessanterweise scheinen die Resultate ihrer Analyse nicht zu den Schlussfolgerungen zu passen, die sich aus den Ergebnissen des Planck-Satelliten der Europäischen Weltraumorganisation ESA ziehen lassen, der bedeutendsten Weltraummission für die Untersuchung der grundlegenden Eigenschaften des Universums. Insbesondere liegen die Messungen des KiDS-Teams, wie dicht die Materie im Universum verteilt ist – einem der wichtigsten kosmologischen Parameter – deutlich unter dem Wert, der sich aus den Planck-Daten ableiten lässt [3].
Massimo Viola erklärt: „Das neueste Ergebnis zeigt, dass die dunkle Materie im kosmischen Netz, die etwa ein Viertel des Universums ausmacht, gleichmäßiger verteilt ist, als wir zuvor geglaubt haben.“
Dunkle Materie ist weiterhin nur schwer nachweisbar. Dass sie überhaupt existiert, lässt sich nur aus ihrer gravitativen Wirkung schließen. Derartige Untersuchungen sind gegenwärtig der beste Weg, um Form, Größe und Verteilung der unsichtbaren Materie zu bestimmen.
Das überraschende Forschungsergebnis hat auch Auswirkungen auf unser allgemeines Verständnis vom Universum und wie es sich in seiner fast 14 Milliarden Jahre währenden Geschichte entwickelt hat. Ein solch offenkundiger Widerspruch zu den neuesten Planck-Ergebnissen bedeutet, dass Astronomen nun möglichweise ihr Verständnis von einigen grundlegenden Aspekten der Entwicklung des Universums neu überdenken müssen.
Hendrik Hildebrandt meint dazu: „Unsere Ergebnisse werden entscheidend dazu beitragen, die theoretischen Modelle weiterzuentwickeln, wie sich das Universum von seinem Ursprung bis heute entwickelt hat.“
Die KiDS-Analyse der Daten des VST war ein wichtiger Schritt, aber die Wissenschaftler erhoffen sich von zukünftigen Teleskopen noch umfangreichere und tiefergehende Durchmusterungen des Himmels.
Catherine Heymans von der University of Edinburgh in Großbritannien, die Ko-Leiterin der Studie, fügt hinzu: „Die Enträtselung dessen, was seit dem Urknall passiert ist, ist wahrlich eine Herausforderung, aber durch die weitere Erforschung des fernen Weltraums können wir uns ein Bild davon machen, wie sich unser modernes Universum entwickelt hat.“
„Wir sehen im Moment einen interessanten Widerspruch zu der Kosmologie des Planck-Weltraumteleskops. Zukünftige Missionen wie das Euclid-Weltraumteleskop und das Large Synoptic Survey Telescope werden es uns ermöglichen, diese Messungen zu wiederholen und besser zu verstehen, was das Universum uns wirklich sagen möchte“, so Konrad Kuijken von der Sternwarte Leiden in den Niederlanden, der wissenschaftliche Direktor der KiDS-Durchmusterung.
Endnoten
[1] In dem internationalen KiDS-Forscherteam sind Wissenschaftler aus Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien, Australien, Italien, Malta und Kanada vertreten.
[2] Das entspricht etwa 450 Quadratgrad oder etwas mehr als 1% des gesamten Himmels.
[3] Der gemessene Parameter wird als S8 bezeichnet. Sein Wert ist eine Verknüpfung zwischen der Größe der Dichtefluktuationen und der durchschnittlichen Dichte in einem Bereich des Universums. Große Schwankungen in Teilen des Universums mit niedriger Dichte haben einen ähnlichen Effekt wie kleinere Amplitudenschwankungen in dichteren Regionen, wobei durch Beobachtungen des schwachen Gravitationslinseneffektes nicht zwischen beiden unterschieden werden kann. Die 8 bezieht sich auf eine Zellgröße von 8 Megaparsec, die konventionell in solchen Untersuchungen verwendet wird.
Weitere Informationen
Die hier präsentierten Forschungsergebnisse von H. Hildebrandt et al. erscheinen demnächst unter dem Titel „KiDS-450: Cosmological parameter constraints from tomographic weak gravitational lensing” in der Fachzeitschrift Monthly Notices of the Royal Astronomical Society.
Die beteiligten Wissenschaftler sind H. Hildebrandt (Argelander-Institut für Astronomie, Bonn), M. Viola (Sternwarte Leiden, Universiteit Leiden, Niederlande), C. Heymans (Institute for Astronomy, University of Edinburgh, Großbritannien), S. Joudaki (Centre for Astrophysics & Supercomputing, Swinburne University of Technology, Hawthorn, Australien), K. Kuijken (Sternwarte Leiden, Universiteit Leiden, Niederlande), C. Blake (Centre for Astrophysics & Supercomputing, Swinburne University of Technology, Hawthorn, Australien), T. Erben (Argelander-Institut für Astronomie, Bonn), B. Joachimi (University College London, Großbritannien), D. Klaes (Argelander-Institut für Astronomie, Bonn), L. Miller (Department of Physics, University of Oxford, Großbritannien), C.B. Morrison (Argelander-Institut für Astronomie, Bonn), R. Nakajima (Argelander-Institut für Astronomie, Bonn), G. Verdoes Kleijn (Kapteyn Astronomical Institute, University of Groningen, Niederlande), A. Amon (Institute for Astronomy, University of Edinburgh, Großbritannien), A. Choi (Institute for Astronomy, University of Edinburgh, Großbritannien), G. Covone (Department of Physics, University of Napoli Federico II, Neapel, Italien), J.T.A. de Jong (Sternwarte Leiden, Universiteit Leiden, Niederlande), A. Dvornik (Sternwarte Leiden, Universiteit Leiden, Niederlande), I. Fenech Conti (Institute of Space Sciences and Astronomy (ISSA), University of Malta, Msida, Malta; Department of Physics, University of Malta, Msida, Malta), A. Grado (INAF – Osservatorio Astronomico di Capodimonte, Neapel, Italien), J. Harnois-Déraps (Institute for Astronomy, University of Edinburgh, Großbritannien; Department of Physics and Astronomy, University of British Columbia, Vancouver, Kanada), R. Herbonnet (Sternwarte Leiden, Universiteit Leiden, Niederlande), H. Hoekstra (Sternwarte Leiden, Universiteit Leiden, Niederlande), F. Köhlinger (Sternwarte Leiden, Universiteit Leiden, Niederlande), J. McFarland (Kapteyn Astronomical Institute, University of Groningen, Niederlande), A. Mead (Department of Physics and Astronomy, University of British Columbia, Vancouver, Kanada), J. Merten (Department of Physics, University of Oxford, Großbritannien), N. Napolitano (INAF – Osservatorio Astronomico di Capodimonte, Neapel, Italien), J.A. Peacock (Institute for Astronomy, University of Edinburgh, Großbritannien), M. Radovich (INAF – Osservatorio Astronomico di Padova, Italien), P. Schneider (Argelander-Institut für Astronomie, Bonn), P. Simon (Argelander-Institut für Astronomie, Bonn), E.A. Valentijn (Kapteyn Astronomical Institute, University of Groningen, Niederlande), J.L. van den Busch (Argelander-Institut für Astronomie, Bonn), E. van Uitert (University College London, Großbritannien) und L. van Waerbeke (Department of Physics and Astronomy, University of British Columbia, Vancouver, Kanada).
Die Europäische Südsternwarte (engl. European Southern Observatory, kurz ESO) ist die führende europäische Organisation für astronomische Forschung und das wissenschaftlich produktivste Observatorium der Welt. Getragen wird die Organisation durch 16 Länder: Belgien, Brasilien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Spanien, Schweden, die Schweiz und die Tschechische Republik. Die ESO ermöglicht astronomische Spitzenforschung, indem sie leistungsfähige bodengebundene Teleskope entwirft, konstruiert und betreibt. Auch bei der Förderung internationaler Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Astronomie spielt die Organisation eine maßgebliche Rolle. Die ESO verfügt über drei weltweit einzigartige Beobachtungsstandorte in Chile: La Silla, Paranal und Chajnantor. Auf dem Paranal betreibt die ESO mit dem Very Large Telescope (VLT) das weltweit leistungsfähigste Observatorium für Beobachtungen im Bereich des sichtbaren Lichts und zwei Teleskope für Himmelsdurchmusterungen: VISTA, das größte Durchmusterungsteleskop der Welt, arbeitet im Infraroten, während das VLT Survey Telescope (VST) für Himmelsdurchmusterungen ausschließlich im sichtbaren Licht konzipiert ist. Die ESO ist einer der Hauptpartner bei ALMA, dem größten astronomischen Projekt überhaupt. Auf dem Cerro Armazones unweit des Paranal errichtet die ESO zur Zeit das European Extremely Large Telescope (E-ELT) mit 39 Metern Durchmesser, das einmal das größte optische Teleskop der Welt werden wird.
Die Übersetzungen von englischsprachigen ESO-Pressemitteilungen sind ein Service des ESO Science Outreach Network (ESON), eines internationalen Netzwerks für astronomische Öffentlichkeitsarbeit, in dem Wissenschaftler und Wissenschaftskommunikatoren aus allen ESO-Mitgliedsländern (und einigen weiteren Staaten) vertreten sind. Deutscher Knoten des Netzwerks ist das Haus der Astronomie in Heidelberg.
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E-Mail: viola@strw.leidenuniv.nl
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Über die Pressemitteilung
Pressemitteilung Nr.: | eso1642de |
Name: | Dark Matter |
Typ: | Early Universe : Cosmology : Phenomenon : Dark Matter |
Facility: | Very Large Telescope |
Science data: | 2017MNRAS.465.1454H |