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Bibliothekare im Zeitalter des Internet

Die Zukunft hat bereits begonnen. Kein Tag vergeht mehr, an dem uns nicht vermeintlich futuristische Begriffe wie Datenautobahn, Hypermedia und Cyberspace begegnen. Politiker versuchen sich in der Selbstdarstellung über Netzwerke genauso wie Umweltschutzorganisationen oder Städte, die ihr kulturelles Angebot auf diese Weise publik machen [1]-[3]. Auch in der bibliothekarischen Fachdiskussion haben Themen, die sich mit den neuen Kommunikationswegen und deren möglichem Einsatz in Bibliotheken beschäftigen, Hochkonjunktur.

Die Einschätzung der Möglichkeiten und des Sinns der sogenannten neuen Technologien schwankt innerhalb der KollegInnen zwischen großem Enthusiasmus und nüchternem Abstand. Das ist verständlich und für die Diskussion sehr anregend - vorausgesetzt, daß nicht nur gesprochen, sondern auch gehandelt wird.

Nun hat Michael Reisser in einem Kommentar in bezug auf Bibliothekare und das Internet die These vertreten: Man braucht uns nicht [4]. Die Frage stellt sich, wer hier mit ``man'' bezeichnet werden soll. Falls die Kommunikationsnetze selbst gemeint sind, so kann man zweifellos ohne zu zögern zustimmen, denn das Internet mit seiner enormen Eigendynamik wartet nicht gerade darauf, von uns verschlagwortet und katalogisiert zu werden. Das kann hier aber wohl nicht gemeint sein, denn Bibliothekare bieten Dienstleistungen für Benutzer an und versuchen nicht, die Entwicklung des Internet an sich zu steuern. Brauchen die Bibliotheksbenutzer, die sich auf die Datenautobahn wagen, die Bibliothekare? Können wir das Suchen, Auffinden, und Auswerten neuer Quellen nicht sog. ``intelligenten'' Robotern und Suchmaschinen überlassen? WebCrawler, Lycos und die zahlreichen anderen ``Internet Search Engines'' machen es uns doch schon heute vor.

Die Antwort fällt meines Erachtens eindeutig aus: Man braucht Bibliothekare und wird sie auch in Zukunft brauchen. Warum? Weil über den vielen neuen Suchmechanismen und automatisierten Auswertungshilfen vergessen wird, daß hinter einer Suchanfrage immer ein Mensch steht, im Bibliothekarsjargon auch Benutzer genannt. Ein Benutzer möchte auf seine Frage eine ihm verständliche und verläßliche Antwort erhalten. Welcher Web-Server bietet die besten Links für welche Anfrage? Welche Bool'schen Verknüpfungen werden bei der Suche in einer durch WAIS erschlossenen Datenbank angewendet? Diese und andere Fragen sollten von den Bibliothekaren, nicht vom Benutzer beantwortet werden. Letzterer soll und kann in einer Fachbibliothek eine Vorauswahl der geeignetsten Informationsquellen erwarten sowie den Zugang zu weiteren Resourcen, falls die vorausgewählten Quellen die Anfrage nicht beantworten.

Lassen wir uns in diesem Zusammenhang nicht von dem Schlagwort der vielzitierten Benutzerfreundlichkeit der Systeme zu der Annahme verleiten, daß in Zukunft tatsächlich alle Endnutzer selber recherchieren. Je einfacher die Benutzeroberflächen scheinbar werden, desto mehr Komplexität verbirgt sich dahinter und ist für den Benutzer oft nicht erkennbar. Einfache Anfragen werden die Benutzer wohl selber durchführen, aber je umfangreicher die Recherche wird und je präziser die Antwort sein soll, desto mehr werden Informationsspezialisten hinzugezogen werden. Es wird immer wichtiger, die erhaltenen Ergebnisse einordnen und interpretieren zu können.

Anders gesagt: Für die Ordnung seiner privaten Büchersammlung wird sich wohl heutzutage niemand einen Bibliothekar engagieren, und kein Internet-Surfer möchte die Erstellung seiner persönlichen Hotlist mit Links zu den favorisierten Informationsquellen einem Dritten überlassen. Es soll hier jedoch um diejenigen Normalbürger (auch ``Normal-Wissenschaftler'') gehen, die zu recht in einer Bibliothek ein (wie auch immer) geordnetes Angebot von Informationsquellen erwarten statt vieler Stapel Bücher, CDs und anderer Medien, aus denen sie sich auf gut Glück selbst bedienen sollen. Insofern unterscheidet sich die sogenannte digitale Bibliothek nicht von der traditionellen. Solange das Angebot überschaubar ist, mag es einen gewissen Reiz haben, selber zu ``stöbern'' und zu ``navigieren''. Für zielgerichtete Fragen von Benutzern wissenschaftlicher und auch öffentlicher Bibliotheken wird dieses unkoordinierte Vorgehen jedoch bei wachsender Datenmenge inakzeptabel, weil viel zu zeitaufwendig sein.

Es steht außer Frage, daß sich das Berufsbild des Bibliothekars/der Bibliothekarin und damit auch die Dienstleistungen, die von Benutzern der Bibliotheken erwartet werden (und erwartet werden können), gravierend ändert. Das bedeutet jedoch nicht eine totale Abwendung von traditionellen Tätigkeiten, sondern vielmehr eine Verlagerung der Schwerpunkte. So werden in Zukunft vermutlich Bereiche der bibliothekarischen Arbeit an Bedeutung gewinnen, die von Bibliothekaren bisher nur zögernd erobert werden. Dazu zählen das intellektuelle Organisieren der Bibliotheksangebote, die Analyse möglicher Informationsquellen, deren Aufbereiten und Zurverfügungstellen und die Schulung der Benutzer im Umgang mit den Angeboten (Griffiths [5]).

Internet und World Wide Web lassen sich aus dem bibliothekarischen Alltag nicht mehr verdrängen. Wenn Bibliothekar/innen sich Gedanken machen über deren sinn- volle Einbindung in den Arbeitsalltag sowie über neue Tätigkeitsfelder, dann hat das weniger mit der verzweifelten Suche nach der beruflichen Nische zu tun, sondern vielmehr damit, in der sich verändernden Medienwelt proaktiv statt reaktiv zu handeln (vgl. Griffiths [5], Medhurst [6]). Wer allerdings schon im Rahmen der traditionellen Bibliothek Schwierigkeiten hatte, die Wichtigkeit von Bibliotheken zu erkennen, der wird sich auch sträuben, die gegenwärtige Entwicklung zu sehen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Leider sind es oft nicht nur zu niedrige Etats, die das Handeln verhindern.

Die Bibliothek ist nicht mehr ``autark''. Sie wird Zugang zu Informationsquellen anbieten, die nicht in ihren eigenen Regalen oder auf den hauseigenen Computern zu finden sind, sondern auf einem Server irgendwo in der Welt. Ebenso werden Bibliothekare Vermittler zwischen verschiedenen Bereichen sein, egal ob man dieses Berufsbild dann mit neuen Namen wie Informationsmanager oder Cybrarian belegt [7] oder einfach akzeptiert, daß sich hinter der Berufsbezeichnung Bibliothekarin heute anderes verbirgt als hartnäckige Zerrbilder von älteren Damen uns glauben machen wollen.

``Technology for producing and distributing information is useless without some way to locate, filter, organize and summarize it. A new profession of ``information managers'' will have to combine the skills of computer scientists, librarians, publishers and database experts to help us discover and manage information. These human agents will work with software agents that specialize in manipulating information - offspring of indexing programs such as Archie, Veronica and various ``World Wide Web crawlers'' that aid Internet navigators today.'' (Varian [8])

Die Frage, ob Dokumente und Informationsquellen, die auf ausschließlich elektronischem Wege zugänglich sind, in das Angebot einer Bibliothek mit aufgenommen werden sollten oder nicht, darf sich in naher Zukunft gar nicht mehr stellen. Andernfalls müßten wir uns den Vorwurf gefallen lassen, große Mengen an verfügbarer Information einfach zu übergehen. Im Moment jedoch lassen die schnellen Veränderungen der Netzwerk-Resourcen Gegenargumente laut werden, die man mit gleicher Berechtigung den Printmedien vorhalten könnte - nur würde niemand ernsthaft so argumentieren. Das ständige Überprüfen von Netzwerkadressen ist schwierig, aber es ist sicherlich kein Grund, Online-Quellen überhaupt nicht anzubieten. Wer würde denn vorschlagen, ein Buch nicht zu erwerben aus Angst, vielleicht die zweite, völlig überarbeitete Auflage nicht ebenfalls im Bestand zu haben? Bieten wir wirklich lieber veraltete Information an, solange sie sich nur zwischen zwei Buchdeckeln befindet und dem Benutzer in die Hand gedrückt werden kann, als eine Fehlermeldung ``404: The requested URL was not found on this server'' zu riskieren?


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ESO Garching Librarian
Wed Oct 16 09:29:28 MET DST 1996